Der Riese vom Guflina

Am Triesenberg, am Gelände von Silum, wo der Kulm den Übergang ins Saminatal vermittelt, liegt Guflina. Dort wohnte vor vielen Jahren ein Mann von Riesengestalt. Seine Stärke erporbte er an Tannen von beträchtlicher Grösse, die er leicht entwurzelte und mit der Handfläche spielend entastete.

Droben an der Silumer Bergspitze wölbt sich ein schroffer Felsenhang, und tief hinein geht eine Höhle. Da drinnen hauste ein Lindwurm von schrecklicher Gestalt, beflügelt, am Haupte Hörner und Augen, wie zwei brennende Fackeln. Der Lindwurm war der Schrecken der Bergleute, weil im Frühling und Herbste, wenn sie die Viehherden auf das Maisässlein Slum und die Alp Bargalle trieben, das Ungeheuer zur Nachtzeit die Herde überfiel und einen grossen Schaden anrichtete. Gross war deshalb die Klage und Not der Bergbewohner.

Da wagte der Riese von Guflina einen Kampf mit dem Untier. Hochaufgerichtet in seiner schrecklichen Gestalt, stürzte dieses ihm wutschnaubend entgegen. Der Riese aber stand vor der Höhle kampfbereit. Schon fühlte er einen schweren Schlag auf seiner Schulter; denn das Ungeheuer versuchte, ihm die mit mächtigen Krallen versehenen Pratzen ins Fleisch zu hacken und ihn zu erwürgen. Doch ein Ruck – und der Riese packte den Lindwurm am Halse und drückte ihn mit beiden Händen so stark gegen die Felswand, dass die Knochen krachten und der Recken ein weithin hörbares Schmerzgeheul austiess. Die Bergleute eilten herbei. Der Lindwurm lag tot am Boden. Da ging ein Jubel durch die Alpentäler.

Die Bergler konnten nun ihre Herde wieder sicher auf die Weiden treiben; der Riese von Guflina hatte sie von schwerer Drangsal erlöst.

Aus dem Liechtensteiner Lesebuch von 1938.